Was lässt sich aus der Beschäftigung mit der Kirchengeschichte für die Geschichte vor Ort lernen?

von Wolfgang Günther

 

Vortragstext bei der Konferenz zur Orts- und Regionalgeschichte des Kreisheimatvereins Herford e.V. auf Gut Bustedt in Hiddenhausen, 2014

2017 soll es voraussichtlich einen neuen bundesweiten Feiertag geben – zumindest für dieses Jahr: den Reformationstag. Aus Anlass des 500. Jahrestags der Reformation soll bundesweit dieser Feiertag begangen werden. Aber wer weiß heute genau, was die Reformation bedeutete. Und wie schlug sich dieses Ereignis, das als Geburtsstunde der protestantischen Kirchen gefeiert wird, vor Ort nieder? Ab wann waren die Kirchengemeinden hier protestantisch? Begann der Wechsel mit der ersten deutschen Predigt? Oder mit der Austeilung des Abendmahls mit Brot und Wein an die ganze Gemeinde? Oder viel profaner: mit der Heirat des Priesters? Oder war es lediglich ein hoheitlicher Akt des Landesherrn? Die Antwort wird je nach Profession unterschiedlich ausfallen.

 

Viele von uns haben noch in der Schule Religionsunterricht gehabt und dabei auch die groben Grundzüge der Kirchengeschichte gelernt. Meist hat es angefangen mit der Urkirche, den Kirchenvätern, schnell ging es zur Reformation und das war es denn meistens auch. Gleichzeitig erleben wir hier in den Städten und Gemeinden des Kreises Herford das kirchliche Leben eher unhistorisch. Aktuelle Stellungnahmen der Kirchen zu den gesellschaftlichen Problemen werden wahrgenommen – mehr oder weniger. Die Amtshandlungen wie Taufe, Trauungen oder Beerdigungen machen uns weiterhin mit der Kirche bekannt – soweit wir diese in Anspruch nehmen. Aber hat die Kirche nicht noch mehr unser Leben hier im Kreis Herford geprägt? Finden wir nicht noch im Alltagsleben Traditionslinien, die uns mit der kirchlichen Vergangenheit verbinden, aber gleichzeitig auch Erklärungen sind, warum bestimmte Dinge so sind, wie sie hier sind?

 

Ich will in meinem kleinen Vortrag aufzeigen, welche Möglichkeiten sich für die Beschäftigung mit der Kirchengeschichte vor Ort ergeben. Dabei muss es gar nicht nur um die Kirchengeschichte im eigentlichen Sinne, also um die Geschichte des Glaubens und der Theologie und ihrer Institutionen gehen. Auch für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte geben die kirchlichen Quellen viele Hinweise. Mentalitätsgeschichte und Kulturgeschichte sind ohne kirchliche Quellen häufig nur unvollständig.

 

Ich möchte dabei zuerst grob aufzeigen, wie die Kirche unsere Region geprägt hat. Dieses ist unterschiedlich zwischen Stadt und Land. Herford mit seinem Stift und den vielen Kirchen, Kapellen und anderen geistlichen Institutionen nimmt hier sicherlich eine Sonderrolle ein. Da gerade diese aber schon besonders gut erforscht sind, möchte ich in diesem Vortrag meinen Schwerpunkt auf die Kirchengemeinden im heutigen Kreis legen.

 

Danach wende ich mich in einem zweiten kurzen Abschnitt den offensichtlichen Zeugnissen der Kirchengeschichte, also den Gebäuden, Friedhöfen und anderen Objekten zu, bevor ich im dritten ausführlicheren Teil die Bedeutung der Kirchenarchive für die Ortsgeschichte und die praktische Nutzung an Hand von Beispielen deutlich machen will. Zum Schluss mache ich noch ein paar Bemerkungen zum Forschungsstand der Kirchengeschichte und zur Umsetzung.

 

1. Spuren kirchlicher Geschichte in der Region

 

Die Kirche gehörte in den letzten 1200 Jahren zu der Institution, mit der alle Menschen neben Familie und Verwandtschaft in Kontakt kamen. Taufen, Trauungen und Beerdigungen wurden in der Regel durch die Geistlichen durchgeführt, später kam die Schule dazu. Vielfach war die Kirche, in denen auch die Edikte, also die Verfügungen des Landesherrn verlesen wurden, der einzige Kontakt zur Obrigkeit. Der Alltag war durch die kirchlichen Feste strukturiert. Zugleich gab die Kirche Antwort auf die zentralen Fragen des Lebens. Diese zentrale Rolle verlor die Kirche zunehmend in den letzten 200 Jahren. Spätestens mit der Abdankung des Kaisers 1918 und damit mit dem Verlust des Staatskirchentums veränderte sich auch die Funktion der Kirche. 

 

Gerade weil die Kirche so eine wichtige Rolle in der Vergangenheit gespielt hat, kommen wir in der Regionalgeschichte nicht an der Kirchengeschichte vorbei. Dass bedeutet aber auch, dass wir die theologischen Fragestellungen mit einbeziehen müssen, auch wenn diese uns heute fremd geworden sein mögen. Kirchengeschichte ist zwar nicht nur Theologiegeschichte – die Bedeutung für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte wird im dritten Teil noch einmal deutlich -, aber ohne die Frömmigkeitsgeschichte bleibt vieles unerklärlich bzw. schwer verständlich.

 

Bereits im letzten Jahr hatten wir in einer Arbeitsgruppe an diesem Orte über die Eigenkirchen als Beginn des christlichen Lebens in dieser Region gesprochen. Neben den ausgesprochenen Missionskirchen bzw. Stiftungen wir z.B. in Enger und Herford, sind die Eigenkirchen der häufigste Ausdruck des Beginns des christlichen Lebens in unserem Raum. Nach der Unterwerfung der Sachsen durch Karl den Großen, waren es vor allem die kleinen Adeligen vor Ort, die ihre Solidarität mit Karl dem Großen und damit auch dem Christentum als Staatsreligion dadurch bezeugten, in dem sie Eigenkirchen für sich und ihre Eigenbehörigen gründeten. Im Einzelfall mag sicherlich auch ein wirtschaftliches Motiv eine Rolle gespielt haben – blieben doch die Einkünfte der Eigenkirche, die nicht zum Unterhalt der Kirche bzw. des Geistlichen benötigt wurden, beim Gründer der Eigenkirche. In den nächsten 200 Jahren konnte die Kirche aber ihren Einfluss ausbauen und auch bestimmte Standards – z.B. ausreichende Qualifikation der Geistlichen -  in den Kirchen durchsetzen. Aus dem direkten Abhängigkeitsverhältnis der Eigenkirchen zum Gründer (Adeliger oder Grundherr) entwickelte sich ein Patronatsverhältnis. Dieses spiegelt den gewachsenen Einfluss der Kirche wieder, da die Kirche mehr Zugriffsrechte auf die Pfarrer hatte. Der Einfluss der Stifter wurde also begrenzt. Diese Patronatsverhältnisse werden aber ein wichtiges Element, dass auch die Kirchengeschichte vor Ort im Einzelfall bis in die Gegenwart prägt, wo sich die Linien der klein-adeligen Familien erhalten haben oder aber diese Rechte weitergegeben wurden. So haben wir in Rödinghausen immer noch ein Privat-Patronatsverhältnis über eine Pfarrstelle, dass seit 1519 mit dem Haus Waghorst und danach Gut Böckel verbunden ist und zum Beispiel auch durch Hertha König wahrgenommen wurde. Zudem gibt es im Kreis noch einige Staatspatronate (fiskalische Patronate). Die Patronatsherren sorgten nicht nur für den Unterhalt der Pfarrer und den Unterhalt der Kirchengebäude, sondern teilweise auch für die anderen geistlichen Ämter wie die Küster und Organisten, die in der Regel mit den dortigen Lehrerstellen verbunden waren. Manche dieser Verpflichtungen wirken bis heute nach, auch wenn sie nicht immer schriftlich nachgewiesen werden können. Ein Beispiel dafür ist das Spenger Mailäuten. Der Sage nach beruht dieses Läuten der kleinsten Glocke jeden Morgen im Mai früh morgens um 6 Uhr auf ein Gelübde der Familie Ledebur von der Werburg. Einer Magd wurde der Diebstahl von Silberlöffeln vorgeworfen. Daraufhin wurde sie zum Tode verurteilt. Als später diese Löffel im Nest einer Elster gefunden wurden, ist die Familie aus Reue eine Verpflichtung zur jährlichen Geldzahlung eingegangen, welches das ewige Läuten zum Mahnen im Mai finanzieren sollte. Daraus wurde die zusätzliche Arbeit des Küsters bezahlt. In den Kirchenrechnungen findet sich in der Tat eine jährliche Leistung des Gutes wieder, die erst im 20. Jahrhundert abgelöst wurde – die Inflation hatte vorher schon für Dezimierung des Wertes der Geldleistung gesorgt. Ob dieses aber tatsächlich mit dem besagten Fehlurteil zusammenhängt, lässt sich bis heute nicht belegen. Vielleicht hat die Stiftung dieser Leistung auch nur etwas mit der allgemeinen Sorge um das Seelenheil des Stifters zu tun, dessen Lebensstil zumindest ungewöhnlich war. Wie dem auch sei, die Glocke läutet auch heute noch immer im Mai.

 

In den meisten unserer alten Landgemeinden finden wir diese Abhängigkeitsverhältnisse zu den örtlichen Gütern, sei es in Hiddenhausen das Haus Consbruch, in Mennighüffen die Ulenburg oder in Löhne das Haus Beck, um nur einige Beispiele zu nennen. Diese Verbundenheit zeigt sich teilweise auch heute noch im Engagement dieser Familien in der örtlichen Kirchengemeinde.

 

Eine Besonderheit in der Kirchengeschichte diese Region, die bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts hineinwirkte, ist die Minden-Ravensberger Erweckungsbewegung. Auch hier sind die Auswirkungen vor allem auf dem Lande zu spüren. In Herford war man nicht in dem gleichen Maße berührt. Als Gründer dieses besonderen Frömmigkeitsstils wird häufig Pfarrer Volkening und dessen Tätigkeit in Gütersloh genannt. In der Tat war es eine Frömmigkeitsbewegung die Geistliche und Laien gleichermaßen erfasste. Zutiefst Lutherisch geprägt, entwickelte sich eine Haltung, die stark auf das Jenseits gerichtet war – die Gegenwart auf der Erde wurde als Jammertal verstanden. Damit verbunden war ein Konservatismus, der jeglichen Erneuerungsbewegungen, wie sie z.B. durch die Sozialisten und Sozialdemokraten repräsentiert wurden, ablehnte. Der Kampf der Arbeiterschaft um die Akzeptanz der Kirche wurde gerade hier mit besonderer Schärfe geführt und hat das Klima zwischen diesen beiden Bevölkerungsteilen bis 1945 und darüber hinaus sehr belastet und z.T. zerstört. Ich nenne nur als Beispiel die Auseinandersetzungen in Spenge, die mit der Spenger Schlacht 1891 ihren Höhepunkt hatte. Die Distanz der Kirche zur SPD lässt sich weiterverfolgen wie ein roter Faden.  Sei es die Auseinandersetzung um eine rote Fahne bei einer Beerdigung eines Sozialdemokraten in der Weimarer Republik (1932) oder Demonstrationen und eingeschlagene Fenster im Pfarrhaus, weil ein Pfarrkandidat, der die Sympathien bei den Zigarrenarbeitern besaß, nicht zur Pfarrwahl zugelassen wurde (1934/1935). Schlusspunkt bilden Presbyteriumswahlen in den 1970iger Jahren,  bei denen sich viele Sozialdemokraten als Kandidaten aufstellen ließen. Dass diese Wahlen dann nicht zu Stande kamen, verwundert dann nicht. Solche Auseinandersetzungen finden sich nicht nur in Spenge. Sie werden in der Weimarer Republik durch die analoge Einführung des Listenwahlrechts bei den kirchlichen Wahlen noch einmal verstärkt, weil nun auch Minderheiten die Chance hatten, in kirchliche Gremien gewählt zu werden.

 

Andere Auswirkungen der Erweckungsbewegung finden wir in der Gründung vieler diakonischer Einrichtungen. Dabei sind hier gar nicht mal die großen Einrichtungen wie in Bethel gemeint, sondern viele Gemeinden gründeten Kranken- und Siechenhäuser, Asyle für Alkoholiker usw. Viele dieser gemeindenahen Einrichtungen sind heute in der Regel nicht mehr in der Trägerschaft der Kirchengemeinden, die Diakoniestiftung Herford oder andere übergemeindliche Einrichtungen sind heute die Träger.

 

Wichtig dabei ist das entstehende Netzwerk zwischen den Pfarrern aus Minden-Ravensberg. Diesen Aspekt kann ich nur andeuten, hier fehlen noch intensivere Untersuchungen. Wenn man aber z.B. den Nachlass des Mennighüffener Pfarrers und Superintendenten des Kirchenkreises Herford Theodor Schmalenbach sichtet, ist man erstaunt über die vielen Querbezüge. Ich halte dieses auch für einen wichtigen Aspekt in der Frage nach dem Sitz der Westfälischen Landeskirche nach dem 2. Weltkrieg, nach dem das Konsistorium in Münster ein Opfer der Bomben geworden war. Dass Bielefeld als Ort gewählt wurde, war kein Zufall.

 

Über die Erweckungsbewegung und deren Auswirkungen ließe sich noch viel mehr sagen. Auch heute noch zählt Minden-Ravensberg zu einem Kerngebiet bekenntnistreuer Christen, einer Gruppierung, die sich sehr stark auf die Bibel bezieht.

 

2. Gegenständliche Zeugnisse der Kirchengeschichte in der Region

 

Bevor ich nun im nächsten Teil auf die schriftlichen Quellen in unseren Archiven zu sprechen komme, möchte ich mit den offensichtlichsten Zeugnissen unserer Kirchengeschichte beginnen, nämlich den in Stein gehauenen Zeugnissen unserer Vorfahren: den Kirchbauten in unseren Städten und Dörfern, die bis in das 9. Jahrhundert zurückgehen.

 

Der Kirchenraum wird von vielen Besuchern als etwas Besonderes empfunden. Aber wer versteht noch die Zeichensprache des Glaubens, der sogenannte Ikonographie, die sich häufig hinter vielen Details eines Kirchenbaues verstecken? Diese finden sich nicht nur in den alten Kirchen, auch bei den Neubauten sind viele theologische Aussagen mit eingeflossen, die sich mit einer wachsenden Distanz immer weniger erschließen. Mit wachsender Kirchenferne lässt sich diese Zeichensprache immer weniger entschlüsseln.

 

Dieses betrifft – hier nur zwischendurch bemerkt – nicht nur die Kirchenbauten, sondern auch andere Traditionen des kirchlichen Lebens wie z.B. das Kirchenlied, aber auch kirchliche Feste.

 

Hier liegt nun eine große Aufgabe, aber auch Chance, um die fragenden und interessierten Besucher neu abzuholen. Seit einigen Jahren bildet z.B. unserer Landeskirche Kirchenführer aus. Diese sollen auf die besonderen Bedeutungen einzelner Baumerkmale aufmerksam machen. Das früher Selbstverständliche muss heute neu übersetzt werden. Warum steht z.B. der Chorraum im Osten? Hat das alte Gestühl einer Kirche auch eine Bedeutung über die reine Sitzgelegenheit hinaus? Zeigt sich da nicht auch ein soziales Abbild der historischen Gesellschaft? Viele Traditionen und Zeichen werden heute nicht mehr verstanden und bedürfen der Erläuterung. Aber damit geben sie auch einen Einblick in die früheren Glaubensvorstellungen.

 

Wie gefragt diese Erläuterungen sind, habe ich gemerkt, als ein Artikel in der Zeitschrift HF über die Herkunft des spätmittelalterlichen Schnitzaltars der Kapelle in Groß-Aschen veröffentlicht wurde. Es kamen viele Nachfragen und diese führten zur Organisation einer Exkursion durch Hartmut Braun zu den Schnitzaltären in Enger, Spenge und Groß-Aschen. Kompetent wurde die Bildersprache der Altäre erläutert und viele versteckte Hinweise aufgedeckt. Die Nachfrage war so groß, dass diese wiederholt werden musste. Leider fand ein angeregter Gegenbesuch der Herforder Stadtkirchen nicht statt. Gerade die dortigen Stadtführer wie Herr Polster, aber auch die Pfarrerinnen und Pfarrer werden bestätigen können, dass das Interesse an den Kirchenbauten mit all ihren „Geheimnissen“ gewachsen ist. Dieses ist gleichzeitig für die Kirchen eine Chance der Verkündigung.

 

Nicht nur im Inneren einer Kirche gibt es viele Dinge, die auf Glaubensvorstellungen hinweisen. Auch die Kirchen selbst geben uns Antworten auf manche Entwicklungen in der Kirche. So sind viele Kirchen auf dem Lande von der schon eben angesprochenen Erweckungsbewegung geprägt. Steigender Kirchenbesuch, der neben der wachsenden Anhängerschaft zur Erweckungsbewegung auch im allgemeinen Bevölkerungswachstum begründet liegt, führt zu einer Notwendigkeit der Erweiterung bestehender Kirchen oder zum Neubau von Kirchen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hierbei bediente man sich in der Regel solcher Architekten, die von anderen Baumaßnahmen in der Region bekannt waren. In Bethel gab es später ein Bauamt, das viele Bauprojekte hier begleitete. Ein bekannter Name ist der 1854 geborene Architekten Karl Siebold, Sohn des Erweckungspfarrers Carl Siebold. Hier wird auch wieder das Netzwerk deutlich, dass ich vorhin angesprochen hatte. Andere Architekten hatten es schwer, hier entsprechende Aufträge zu bekommen.

 

Friedhöfe sind eine weitere Örtlichkeit, in denen sich auch die Entwicklung der Frömmigkeitsgeschichte ablesen lässt. Früher waren die sogenannten Kirchhöfe die Beerdigungsorte. Die Gräber waren also um die Kirche herum angelegt. Einen Eindruck geben dazu die wieder hergerichteten Kirchhöfe z.B. um die Stiftberger Marienkirche. Spätestens im 19. Jahrhundert werden die Friedhöfe aus hygienischen Gründen verlegt. Wenn man die damaligen Friedhofsakten liest, staunt man, mit welcher Distanz damals diese Kirchhöfe benutzt worden waren. Klagen über überbelegte Gräber, in denen bei schweren Regenfällen die Gebeine herausgespült werden, oder auf denen die Kühe des Küsters weiden, sind keine Einzelfälle. Auch die Entwicklung der Grabsteine im 19. und 20. Jahrhundert lassen eine Veränderung der Einstellung zum Tod und zum Jenseits erkennen. Diese Aspekte will ich heute aber nicht weiter vertiefen, sondern ich will mit diesen Anmerkungen vor allem Impulse setzen.

 

Neben den Gebäuden der übrigen kirchlichen Bediensteten (Pfarrhäuser, Lehrer- und Küster- bzw. Organistenhäuser) die häufig auch an dominanten Stellen standen, finden sich vielfach auch noch Flurbezeichnungen, die auf ein (früheres) kirchliches Eigentumsverhältnis hinweisen. Da die Finanzierung der Gebäude und Pfarrstellen eben nicht über eine Landeskirche organisiert wurde, sondern Angelegenheit der jeweiligen Kirchengemeinde war, bildeten diese Grundstücke und deren Erträge die Grundlage der Finanzierung des kirchlichen Handelns. Z.T. wurden die Grundstücke von den Amtsinhabern selbst bewirtschaftet – früher hatten die Pfarrhäuser selbstverständlich Stall und Scheune - , zum größeren Teil wurden diese verpachtet. Diese Pachteinnahmen und die Abgabeverpflichtungen der Bauern bildeten das Fundament der Finanzierung der Kirchengemeinde. Je nachdem, wie umfangreich der Grundbesitz bzw. die Höhe der Abgabeverpflichtungen war, galt eine Kirchengemeinde als reich oder arm. Insofern erklärt sich dann auch, warum es so schwer war, neue Kirchengemeinden z.B. in der Diaspora zu gründen.

 

3. Schriftliche Quellen zur Kirchengeschichte – oder: was können Kirchenarchive heute leisten?

 

Die Aufgabe der Kirchengeschichte ist heute Traditionsvergewisserung und damit Bewahrung der eigenen Identität, bedeutet aber auch Selbstreflexion (Warum machen wir eigentlich was?). Viele Bausteine für diese Aufgabe finden sich in den Archiven der Kirchengemeinden.

 

Zuvor möchte ich einen kurzen Überblick über die jetzige Situation der Kirchenarchive geben, bevor ich inhaltlich auf die möglichen Überlieferungswerte eingehe.

 

Nach den archivrechtlichen Bestimmungen unserer Landeskirche ist jede Kirchengemeinde selbst verantwortlich für ihr Archivgut. Diese nehmen ihre Verantwortung unterschiedlich war. Es gibt Kirchengemeinden, die ihre Archive gut erhalten haben, andere haben diese bei Baumaßnahmen als Bauschutt gleich mit entsorgt. Mit anderen Worten, jedes Archiv hat einen eigenen Überlieferungscharakter. In den 1960iger Jahren hat man auf der landeskirchlichen Ebene erkannt, dass hier eine Notwendigkeit bestand, helfend einzugreifen, um die kirchliche Überlieferung zu wahren und zu erhalten. Das Landeskirchliche Archiv wurde gegründet, das neben der Archivierung der Unterlagen der Landeskirche als weiteren Schwerpunkt seiner Arbeit die Sicherung und Ordnung der Gemeindearchive hat. 50 Jahre später können wir feststellen, dass eigentlich die meisten erhaltenen Archive der historischen Kirchengemeinden erfasst und verzeichnet sind. Lücken finden sich noch bei den neugegründeten Kirchengemeinden v.a. der Nachkriegszeit. Viele der Archive sind aber nach ihrer Bearbeitung nicht wieder zurück zu den Kirchengemeinden gekommen, sondern wurden im Landeskirchlichen Archiv deponiert. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Zum einen haben die Kirchengemeinden in der Regel gar nicht das Fachwissen, um ein Archiv sachgerecht zu betreuen. Zudem muss man auch sagen, dass das Verantwortungsgefühl gegenüber den Archivalien unterschiedlich ausgeprägt ist und war. Zum Teil holen wir Archive aus Dachböden und Kellern, in denen die Akten zwischen den Materialien und Zelten der letzten Freizeiten lagen. Oder die persönlichen Steuerunterlagen des Pfarrers liegen mit den Akten zusammen in Kartons, in den Mäuse sich redlich ernährt haben. Aber auch Dachböden sind eine beliebte Unterbringungsmöglichkeit. Da ist es dann vielleicht verständlich, dass wir kein großes Interesse haben, die geordneten Archive dorthin wieder zurückzubringen. Inzwischen liegen die meisten Archive als Depositum im Landeskirchlichen Archiv. Hinzu kommt, dass das Landeskirchliche Archiv auch nicht so weit entfernt ist, als dass man da nicht auch kurz mal vorbei fahren könnte. Eine Übersicht über den Erschließungsstand und Lagerungsort der Archive einzelnen Kirchengemeinden gebe ich nachher.

 

In der kirchlichen Organisation gibt es oberhalb der Kirchengemeinden eine Mittelebene, das ist der Kirchenkreis. Hier muss gesagt werden, dass der heutige Kommunalkreis Herford nicht identisch ist mit den kirchlichen Organisationsgrenzen. Der Osten des Kreises Herford, also die Kirchengemeinden der heutigen Stadt Vlotho (also die ref. Johannis-Kirchengemeinde und die Stephan-Kirchengemeinde in Vlotho sowie die Kirchengemeinden Bonneberg, Exter, Uffeln und Wehrendorf, sowie die heutige Kirchengemeinde Gohfeld im Bereich der Stadt Löhne gehören zum Kirchenkreis Vlotho. Spenge und Wallenbrück gehörten zwischen 1841 und 1964 zum Kirchenkreis Halle. Die Archive der Kirchenkreise Halle und Vlotho sind im Landeskirchlichen Archiv deponiert, das Archiv des Kirchenkreises Herford befindet sich dagegen beim Kreiskirchenamt an der Hansastraße. Gerade für die Zeit zwischen 1815 und 1850 ist das Archiv des Kirchenkreises eine bedeutsame Überlieferung, da der damalige Superintendent Johanning akribisch alle Unterlagen, die er bekommen konnte, chronologisch abgeheftet hat. Gedichte auf Napoleon wie Berichte über Schulprüfungen zeigen, dass er auch über den Tellerrand der rein kirchlichen Verwaltung hinausschaute.

 

Auch auf der Ebene der Landeskirche befinden sich Unterlagen zu den Kirchengemeinden unserer Region. Das Konsistorium, dass im Rahmen der preußischen Reformen 1815 in Münster gegründet wurde und mit seiner Unterbringung gegenüber dem Dom der Stadt Münster auch ein Signal des preußischen Staates gegenüber der katholischen Kirche darstellte, hatte die Aufgaben der Kirchenaufsicht. Zuerst nur über die inneren Kirchenangelegenheiten, dann auch über ein Teil der äußeren Kirchenangelegenheiten. Weitere Kirchenaufsichtsfunktionen verblieben bei den Regierungspräsidenten, insbesondere auch die Schulaufsicht. Auf Grund dieser Aufsichtsfunktion wurden durch das Konsistorium zu jeder Kirchengemeinde entsprechende Ortsakten angelegt. Denn jede Berufung eines Pfarrers, jeder Beschluss über den Bau kirchlicher Gebäude und über bedeutende Vermögensangelegenheiten wie Grundstückskäufe oder – -verkäufe waren genehmigungspflichtig. Auch Beschwerden über Geistliche fanden ihren Niederschlag in den Ortsakten. Waren diese gravierender, landeten sie dann in den Personalakten, da dann ein Disziplinarverfahren in Gang gesetzt wurde. Diese Akten sind also auch eine wichtige Ergänzung zur örtlichen Überlieferung. Das Konsistorium wurde zum Ende des Zweiten Weltkriegs ein Opfer der Bomben. Die Akten konnten weithin gerettet werden.

 

Einige Vorgänge landeten in Berlin beim EOK, dem Evangelischen Oberkonsistorium, das zuletzt seinen Sitz direkt am Bahnhof Zoo hatte.

 

Wie ich eben erwähnt habe, sind natürlich auch in anderen staatlichen Archiven kirchliche Angelegenheiten zu finden. Neben den schon erwähnten Aufsichtsunterlagen bei den Bezirksregierungen, sind hier vor allem die Archive der säkularisierten Stifte und Korporationen zu nennen, die mit der Säkularisation staatliches Archivgut wurden und daher heute im Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen in Münster zu finden sind. Gleichzeitig sind die Kirchenangelegenheiten vor 1815 als landesherrliche Kompetenz in den Archiven der jeweiligen Landesherren zu suchen. Die Stadt Herford hatte lange Zeit eine eigene städtische Kirchenorganisation. Insofern ist hier auch das Kommunalarchiv ein Ansprechpartner.

 

So weit eine kurze Übersicht über die Überlieferungslage. Aber welche Quellen sind nun besonders interessant für den Ortshistoriker?

 

Die beste Zusammenfassung des kirchlichen Geschehens vor Ort geben die Jahresberichte der Kirchengemeinden zur Kreissynode. Allerdings gibt es diese Berichte erst seit dem 19. Jahrhundert.

 

Zudem fallen sie auch unterschiedlich ausführlich aus, je nachdem wie schreibfaul oder mitteilungsfreudig der Pfarrer war. Der Vorteil dieser Berichte ist, dass diese nach einem Schema geschrieben wurden, das sich bis 1945 nur unwesentlich verändert hat. Neben der Entwicklung der Kirchengemeinde werden auch Entwicklungen im sozialen und konfessionellen Bereich abgefragt. Einige Pfarrer kommentieren auch die aktuelle kirchenpolitische oder allgemein politische Entwicklung. Wenn z.B. der Wallenbrücker Pfarrer in seinen Berichten um 1890 darüber klagt, dass  die demokratische Entwicklung mit dem dortigen Parlamentarismus bedrohliche Züge annimmt oder – um auf der örtlichen Ebene zu bleiben – mit dem Einzug der Prostitution im beschaulichen Wallenbrück eine große Gefahr für die kirchliche Sitte beschreibt, so sind diese Berichte ein Ausdruck der Erfahrung sozialer Veränderungen. Sie geben aber auch Einblick in die Gedankenwelt der örtlichen Pfarrer.

 

Auf der Ebene der Kreissynode fasste der Superintendent die Gemeindeberichte zusammen und erweiterte sie z.T. mit eigenen Gedanken. Insofern geben diese Protokolle einen guten Überblick über die Entwicklung im Kirchenkreis und ermöglichen Quervergleiche zu anderen Kirchengemeinden, aber auch zwischen Kirchenkreisen. Dadurch entsteht vielfach ein differenziertes Bild. Bei Fragestellungen, wie in diesem Jahr z.B. das Gedenken zum Beginn des 1. Weltkriegs vor 100 Jahren, bieten diese Protokolle einen guten Einblick in die theologische Bewertung der Entwicklung des Krieges. Veröffentlichungen zum Kirchenkreis Bochum und Münster zeigen deutlich, dass die vorherrschende Kriegsbegeisterung durch die Kirche und ihre enge Verbindung zum Nationalprotestantismus vorbehaltlos unterstützt und gefördert wurde. Das Kriegsende wird zum Teil als Strafe Gottes angesehen, nur wenige sehen positive Chancen in dem Neubeginn als selbständige Kirche. Die Abdankung des Kaisers und das damit verbundene Ende des landeskirchlichen Regiments führen zu einer starken Verunsicherung, die sich in einer kritischen Distanz zur Weimarer Republik niederschlägt. 

 

Für die Ortsgeschichte ebenfalls interessant sind die sogenannten Lagerbücher. Sie wurden um 1840 eingeführt und sollten der Kirchengemeinde und dem Konsistorium einen Überblick über die Vermögensstand der Kirchengemeinde geben. Die Bedeutung dieses Buches wird dadurch unterstrichen, dass es doppelt geführt werden musste. Ein Exemplar verblieb bei der Kirchengemeinde, das andere wurde beim Konsistorium deponiert. In regelmäßigen Abständen musste es durch eine Fortschreibung aktualisiert werden. Das Kirchenvermögen war untergliedert in unterschiedliche Bestandteile. Es gab z.B. einen Kirchenfonds, einen Pfarrfonds, einen Armenfonds, um nur die wichtigsten zu nennen. In diesem Buch waren nun die jeweiligen Vermögensumstände aufgeführt, die die jeweiligen Arbeitsbereiche finanzieren sollten. Im Pfarrfonds waren z.B. die Grundstücke und die Immobilien, also das Pfarrhaus aufgeführt. Ein Teil dieser Grundstücke war verpachtet, diese Einnahmen dienten in diesem Fall zur Finanzierung des Pfarrers, aber auch zur Finanzierung der Aufwendungen zum Unterhalt oder ggfls. zur Renovierung des Pfarrhauses. Zudem wurden die Abgabeverpflichtungen anderer Grundstücksbesitzer, seien es Naturalien oder Geldleistungen festgehalten genauso wie die entsprechenden Ablösungen. Auch Darlehen, die aus dem Pfarrvermögen gewährt wurden, sind hier vermerkt worden. Man darf diese Darlehensvergabe der Kirche auf dem Lande nicht unterschätzen, denn ein Sparkassen- oder Banksystem gab es auf dem Lande in der heutigen Form nicht. Insofern spiegelt sich hier ein Stück Wirtschaftsgeschichte des Landes wieder. Auch hier fehlen m.W. noch genauere Untersuchungen, die die Bedeutung einer Kirchengemeinde für das wirtschaftliche Handeln vor Ort genauer als Gegenstand haben. Die Lagerbücher sind aber nicht nur für die Wirtschaftsgeschichte interessant In unserem Zusammenhang viel wichtiger ist die Tatsache, dass neben den wirtschaftlichen Verhältnissen auch die geschichtliche Entwicklung dokumentiert werden sollte. Zu jedem Lagerbuch sollte im Anhang eine Chronik der jeweiligen Kirchengemeinde beigefügt werden. Dieses ist in der Regel auch gemacht worden. Allerdings sind auch hier die Unterschiede in der Umsetzung sehr groß. Bei manchen Lagerbüchern fehlt die Chronik ganz, bei anderen fällt sie sehr dürftig aus. Ausführliche Chroniken sind leider nicht der Regelfall. Auch die Fortführung der Chronik, die parallel zu der Fortführung der Vermögensangaben erfolgen sollte, war leider nicht selbstverständlich. Gleichwohl sollten diese Lagerbücher als Quelle für die Ortsgeschichte nicht außer Acht gelassen werden! Die Lagerbücher hatten übrigens noch einen Vorläufer, die sogenannte Kirchenmatrikel von 1733, die in Minden-Ravensberg angefertigt werden mussten. Auch hier erhält man einen Überblick über die Vermögenssituation der Kirchengemeinde sowie über die kirchlichen Sitten und Gebräuche. Allerdings hatten diese Matrikel keine Chronik und wurden auch nicht weitergeführt. Sie geben aber eine umfassende Momentaufnahme des Jahres 1733.

 

Für die Recherche bei Ereignissen der örtlichen Kirchengeschichte empfiehlt sich auch ein Blick in die örtlichen Presbyteriumsprotokolle. Was ist überhaupt ein Presbyterium? Das Presbyterium ist ein Verfassungsorgan der Kirchengemeinde. Es wählt in der Regel den Pfarrer, ist für die geistliche Führung zuständig und verantwortlich für die Finanzen und das Vermögen. Seit 1945 wird das Presbyterium direkt von den Gemeindegliedern gewählt, vorher gab es eine indirekte Wahl. Die Gemeindeglieder (ab 1918 auch die Frauen) wählten die sogenannten Repräsentanten als größere Gemeindevertretung. Diese wählte wiederum das Presbyterium. Da die Gemeindevertretung auch jährlich den Kirchensteuersatz festlegte oder aber besondere Umlagen z.B. für Kirchenbaumaßnahmen beschließen konnte, war wichtig, das die Interessen der Betroffenen sich dort artikulieren konnten. Die unterschiedlichen Auffassungen über die kirchliche Selbstverwaltung zwischen den Reformierten (synodal) und Lutheranern (konsistorial) früher, und der rheinischen und westfälischen Landeskirche gegenüber der preußischen Kirchenverfassung sind ein eigenes Kapitel, das zwar sehr  spannend ist, aber hier den Rahmen sprengen würde.

 

Zuweilen werden die Presbyteriumsprotokolle als Verlaufsprotokolle geführt, meistens aber als Beschlussprotokolle. Es kommt auch vor, dass wichtige Erklärungen gegenüber dem Konsistorium oder Dritten wörtlich zitiert werden. Insofern sind diese Protokolle für Entwicklungen im Bereich der Kirchengemeinde unverzichtbar. Eine Schwierigkeit ergibt sich allerdings: Im Presbyterium können auch Seelsorgeangelegenheiten beraten werden. Diese unterliegen aber einer Schweigepflicht, die auch keinen Ablauf von Schutzfristen kennt, sondern dauerhaft gilt. Dieses Dilemma zeigt sich z.B. auch in der Erarbeitung von Unterlagen zur Dokumentation des 1. Weltkriegs. Viele Pfarrer unterhielten Verbindungen zu den Söhnen der Gemeinde, die im Felde standen. Vielfach waren dieses hektografierte oder gedruckte Rundbriefe mit Berichten aus der Heimat oder auch Ermahnungen, den Verlockungen der Verderbtheit nicht zu verfallen. Dieses ist alles aus archivischer Sicht ganz unproblematisch. Was aber passiert mit Antwortschreiben, in denen die persönlichen seelischen Nöte des Einzelnen angesichts der Schrecken des Krieges ausgebreitet werden? Das gleiche Problem ergibt sich übrigens auch an anderer Stelle, wenn der Pfarrer in Scheidungsangelegenheiten Sühneversuche machen soll und Stellungnahmen abzugeben hat. Aus kirchlicher Sicht ist das Seelsorgegeheimnis ein hohes Gut, dass auch nicht durch historische Interessen in  Frage gestellt werden soll. Aber es ist kein Totschlagargument, um die Einsichtnahme in kirchliche Unterlagen, wie z.B. Presbyteriumsprotokolle auszuschließen. Sollte dieses Ihnen aber passieren, empfehle ich Ihnen eine Kontaktaufnahme mit dem Landeskirchlichen Archiv. Wir finden in der Regel Wege und Möglichkeiten, um beiden Ansprüchen gerecht zu werden.

 

Nun aber ein praktisches Beispiel zum Quellenwert der Protokolle: Im März 1832 stirbt der Spenger Pfarrer Seippel. Im September 1834 tritt Pfarrer Ernst Weihe die Nachfolge an. Im Gegensatz zu Seippel, der dem Rationalismus zuzurechnen ist,  vertritt er die theologische Richtung der noch jungen Erweckungsbewegung. Schritt für Schritt finden nun Veränderungen in der Kirchengemeinde statt: Im Oktober 1834 beschwert sich Weihe, dass viele Gemeindeglieder zu den Gottesdiensten zu spät kämen und damit den Gottesdienst störten. Ohnehin beginnt der Gottesdienst immer zu spät, so dass er häufig nach 12 Uhr mittags endet. Daraufhin werden feste Zeiten beschlossen, nämlich im Sommer beginnt der Gottesdienst um 9:00 Uhr, im Winter um 10:00 Uhr. Im nächsten Monat beschwert sich der Pfarrer über die sogenannten Leichenbiere, bei denen nach der Beerdigung  den Leichenbegleitern so viel Branntwein ausgeschenkt werde, dass diese nach Hause taumeln würden und es sogar zu Streit und Schlägereien käme. Weiterhin heißt es: „Die sämtlichen Anwesenden gaben ihr großes Missfallen an den verderblichen Leichenbieren zu erkennen, glaubten aber, dass denselben nur durch obrigkeitliche strenge Verordnungen ein Ziel gesetzt werden könne, indem keiner der Erste sein wolle im Aufgeben des bisherigen Gebrauchs, wegen der unangenehmen Nachrede, die den unfehlbar treffen würde, der bei einer Beerdigung das Leichenbier nicht mehr geben würde“. In der gleichen Sitzung wird auch darauf hingewiesen, dass mehrere Paare, es handelte sich um neun Paare, in wilder Ehe leben. Der Prediger möge doch daraufhin wirken, dass diese ordnungsgemäß sich trauen ließen. Ein Jahr später kann Pfr. Weihe mit Stolz vermelden, dass es keine wilden Ehen mehr gibt. Aber auch ökonomische Sorgen drücken. Das grassierende Nervenfieber hatte 10 bis 12 Waisenkinder hinterlassen, die nun durch die kirchliche Armenkasse unterstützt werden müssen. Aber die Versorgung der schon jetzt in der Gemeinde befindlichen Waisenkinder verursacht ein jährliches Defizit. Es werden Gespräche mit den Pflegeeltern der Waisenkinder gesucht, mit dem Ziel, die Höhe der Zuschüsse wieder zu senken. Es gelingt, die jährliche Zuschusshöhe um 100 Reichstaler zu senken. Dieses sind nur einige Punkte aus den ersten Protokollen nach dem Amtsantritt von Pfr. Weihe. Sie zeigen aber die Breite der Themen und damit auch die große Relevanz für die Alltagsgeschichte.

 

Aber in den Archiven finden sich noch viele andere Unterlagen. Ich lasse die Kirchenbücher, die für die Familienforschung ja unersetzlich sind, bei Seite, obwohl fast 90 % unserer Benutzer Familienforscher sind. Für die Ortshistoriker sind auch andere Quellen von großem Interesse. Sei es die Unterlagen, die zur Geschichte einer Kirchengemeinde gesammelt werden – wie z.B. Berichte zu den Kriegen und zu den Gefallenen aus der Kirchengemeinde – wie auch zur Schulgeschichte. Zum einen waren die Schulämter in den Landschulen bis um die Zeit von 1880 – 1920 immer verbunden mit den Kirchenämtern des Organisten und des Küsters. Zum anderen führte die Kirche auch die Schulaufsicht über die niederen Schulen. Diese Schulinspektionsakten geben guten Einblick in die einzelnen Schulen vor Ort und die dort agierenden Lehrer. Stundenpläne, Disziplinarangelegenheiten, aber auch Beschwerden über einzelne Lehrer zeichnen ein detailliertes Bild der Schulen vor Ort. Weitere Aktengruppen kann ich hier nur anreißen, für detailliertere Nachfragen steh ich gerne gleich in der Arbeitsgruppe zur Verfügung. Einen weiteren großen Teil der kirchlichen Arbeit nimmt die Armenfürsorge ein. Ich hatte ja eben schon im Beispiel von Spenge darüber berichtet. Die Kirchengemeinden verwalteten das Armenvermögen und wachten über die richtige Verteilung. Zu verschiedenen Aspekten der Vermögensverwaltung habe ich mich auch schon  ansatzweise geäußert. Unterlagen über Verpachtungen von Land, Gewährung von Darlehen, aber auch die Finanzierung kirchlicher Baumaßnahmen stehen immer in Bezug zum örtlichen Gemeindeleben. Die Abgabelisten für die Kirchensteuern oder zur Deckung von Sonderaufgaben spiegeln gleichzeitig die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht nur der Bauern wieder. Zusammengefasst: Die Kirchenarchive bieten mehr Informationen zur Geschichte einer Region als vielleicht gedacht.

 

Stand der historischen Forschung bzw. wie vermittle ich Kirchengeschichte

 

Auch die Kirchengeschichte ist bestimmten Wellen und Moden unterworfen. So ist jetzt z.B. wieder die Reformationsgeschichte ein gefragtes Thema. Und sicherlich gibt es hier auch immer noch einige offene Fragen. Ein laufendes Promotionsvorhaben fragt zum Beispiel nach der Rolle der kirchlichen Stifte und Korporationen bei der Umsetzung der Reformation in den Städten. Beispielhaft an den Städten Herford und Soest geht eine Historikern der Frage nach, wie diese geistlichen Einrichtungen mit den reformatorischen Bewegungen in den Städten umgehen und umgekehrt. Dabei untersucht sie vor allem die Wechselwirkung zwischen dem Rat der Stadt, die sich für die Reformation eingesetzt hatten, und den Beharrungskräften oder Erneuerungskräften der verschiedenen Einrichtungen. Dabei kommt sie zu ganz neuen Ergebnissen. Die Arbeit wird voraussichtlich in ein bis zwei Jahren abgeschlossen sein. Die Reformationsgeschichte hat ein Thema in den Hintergrund gedrängt, dass vorher die Forschung in den Vordergrund gestellt hatte: nämlich das Verhältnis der Kirchen zum Nationalsozialismus. Als letzte Veröffentlichung ist hier eine Chronik des Kirchenkampfes im Bereich des Kirchenkreises Minden von Andreas Müller zu nennen, jetzt Professor in Kiel. Im Kirchenkreis Minden war es um die Haltung der Kirchen zum Nationalsozialismus durch verschiedene Leserbriefe und vor allem durch Vorwürfe gegen die Benennung kirchlicher Gebäude z.B. nach dem Hofprediger Stöcker, der unter anderem auch ein führender Vertreter des Antisemitismus gewesen ist,  gekommen. Diese Arbeit ist in der roten Reihe erschienen, die das Landeskirchenamt zusammen mit dem Verein für westfälische Kirchengeschichte herausgibt. Sicherlich wäre diese Fragestellung im Kreis Herford noch sehr viel interessanter, trafen hier nicht nur zwei zentrale Akteure aufeinander, die auch auf der Ebene der Landeskirche eine wichtige Rolle spielten: Ernst Wilm, Pfarrer der Kirchengemeinde Mennighüffen, der schließlich der erste Präses der selbständigen westfälischen Landeskirche wurde und vorher im KZ Dachau inhaftiert worden war, und auf der anderen Seite Hermann Kunst, im Dritten Reich Superintendenturverwalter und dann Superintendent des Kirchenkreises Herford, der als „Diplomat im Lutherrock“ ebenfalls für die Bekennende Kirche Stellung bezogen hatte. Hatte Kunst auf der ersten Kreissynode nach dem Krieg in Herford gegen Ernst Wilm durchgesetzt, konnte sich Ernst Wilm bei der Wahl des ersten Präses der westfälischen Landeskirche gegen Kunst durchsetzen. Hans Thimme, als Nachfolger von Ernst Wilm dann der zweite Präses der Landeskirche, wirkte in Spenge und in Bad Oeynhausen hatte Karl Koch die wichtigsten Leitungsämter der Bekennenden Kirche inne. Insofern fehlt eigentlich gerade für unseren Raum hier noch eine genauere Untersuchung. Während also der Kirchenkampf nicht mehr so im Fokus der Wissenschaft steht, ist die Rolle der Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg und bei der Gründung der beiden deutschen Staaten heute ein wichtigeres Thema. Daneben gibt es natürlich auch Sonderthemen, wie z.B. die Missbrauchsfälle in den Kinder- und Jugendheimen, die auch die kirchlichen Archive beschäftigen.

 

Einen großen Teil der Anfragen im Landeskirchlichen Archiv machen die örtlichen Jubiläen von Gebäuden, Personen oder Gruppen aus. Die örtliche Kirchengeschichte wird genutzt, um auch kirchenferneren Mitgliedern und Einwohnern den historisch engen Zusammenhang zwischen der Orts- und Heimatgeschichte deutlich zu machen. Und damit wären wir wieder am Anfang, wo ich die Relevanz der Kirchengeschichte für die eigene Identität auch als Institution betont hatte. Dazu werden auch immer wieder neue und ausgefallene Veranstaltungsformen gesucht und gefunden. Angesichts der Kürze der verbliebenen Zeit will ich dieses hier nur an einem Beispiel deutlich machen. Wenn man das heutige Leseverhalten sieht und auf die Bestseller der Bücherlisten schaut, stellt man fest, Krimi und Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur. Dieses war in Spenge auch der Grund, um beim letzten Gemeindefest, das zur Nacht der offenen Kirchen Pfingsten 2014 stattfand, eine besondere Veranstaltung zu planen: Ein Kirchenkrimi zur besten Tatortzeit – verbunden mit einem Verschwörungstheorie a la Dan Brown. Und erstaunt stellten wir fest, wie sich dieses alles mit der Spenger Kirchengeschichte verknüpfen ließ! Auf spielerische Weise hatten wir eine Reise in die örtliche Kirchengeschichte mit den Spannungselementen eines Krimis vermischt, garniert mit eine abstrusen Verschwörung. Welches waren die historischen Zutaten? Es ging von der Gegenwart – herunterfallende Glockenklöppel verursachen eine erzwungene Glockenruhe, über die Spenger Schlacht, wo diesmal umgekehrt die Sozialdemokraten den tönenden Posaunen der Bauern unterliegen, weiter in das Jahr 1875. Dort wird einem Lehrer, der auch die Kinder in Singen unterrichtet, das ausstehende Gehalt verweigert und eine Protestgemeinde gegründet, die das Wort in den Mittelpunkt stellt. 1765 brannte das Pfarrhaus des Spenger Pfarrer Buddeus nieder, der sich auch besonders um den Kirchengesang gekümmert hatte und die Geschichte endet schließlich 1650. Ein Streit zwischen dem Pfarrer und dem Organisten, der während des Gottesdienstes Karten spielt, eskaliert, bis schließlich ein Blitzschlag die Orgel verstummen lässt. Sie ahnen es sicherlich schon, es geht um den Konflikt zwischen Musik und Wort, der sich wie ein roter Faden durch den Krimi zieht. Dem Kommissar gelingt es, einen 1650 gegründeten Chor der Schweigsamen, der bis in die Gegenwart sein Unwesen getrieben hat, zu enttarnen. Dieses war der fiktive Anteil an der Geschichte, während die historischen Begebenheiten im Wesentlichen stimmten. Kirchengeschichte muss also nicht immer ernst und trocken daher kommen. Einen Mord an einen Geistlichen hatten wir allerdings nicht zu bieten.  Und wo wir gerade beim Mord sind: Kirchengeschichte kann auch so interessant sein, dass sie es sogar in die populärste und reißerischste Presse schafft, die sonst nur so von Blut trieft – sie ahnen es: die Bild-Zeitung: Mehr Aufmerksamkeit kann man sich wirklich nicht wünschen. Dabei muss es sich nicht einmal um Mord handeln!